Marie Luise Fleisser Rundgang
Stadttheater am Rathausplatz vor dem Umbau Altes Theater, Innenansicht Altes Stadttheater am Rathausplatz Altes Rathaus, Ingolstadt

RATHAUSPLATZ

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Kein geringerer als Gabriel von Seidl erbaute das Rathaus 1882-84 im Stil der Neo-Renaissance.
Der Rathausplatz ist emotional gespalten. Auf der Seite zum Sparkassengebäude liegt der freudige Beginn der Begeisterung fürs Theater und auf der Seite des Alten Rathauses der Theaterskandal um Fleißers Drama „Pioniere in Ingolstadt“ und damit die Ursache für den tiefen Einschnitt in ihrer Karriere sowie der bis heute anhaltend schlechte Ruf der Dramatikerin in Ingolstadt.

Bert Brecht, der Fleißers Stücke auf die Bühne brachte, hatte nach unspektakulären Aufführungen des zweiten Dramas Fleißers „Pioniere in Ingolstadt“ in Dresden bei der Vorstellung im Berliner Theater am Schiffbauerdamm in die Inszenierung eingegriffen und einen der vielen Theaterskandale in der Zeit der Weimarer Republik verursacht. Im Stück wurden Postkarten von Ingolstadt als Diaprojektion an der Wand gezeigt. Diese Tatsache und die Negativkritiken führten zum Protest des Ingolstädter Stadtrats, der das Stücke weder gesehen noch gelesen hatte, die positiven Kritiken nicht berücksichtigte.

In einer „Meldung an den Deutschen Städtetag durch Oberbürgermeister Dr. Gruber vom 06.04.1929 wird „Protest“ erhoben „gegen das gemeine Machwerk der Schriftstellerin Marieluise Fleißer Pioniere in Ingolstadt, wodurch Ingolstadt und seine Einwohnerschaft und die ehemalige Pioniergarnison aufs schwerste beleidigt und verhöhnt wird... Ebenso protestieren wir gegen die weitere Aufführung dieses Schmähstückes, schließlich protestieren wir auch gegen die Art und Weise der Besprechung dieses Fleißer´schen Schandstückes im Vorwärts. Ingolstadt Stadtrat“

aus: Hiltrud Häntzschel, Marieluise Fleißer-Eine Biographie, S. 184



Die Kritik aus dem Vorwärts vom 02.04.1929 ist in Auszügen abgedruckt in der Ingolstädter Zeitung am 04.04.1929:
„Die Pioniere nahmen die Ingolstädter Mädchen im Bett und auf der Heide und sogar auf der Kirchhofsbank. Die ganze Ingolstädter Damenwelt von 14 Jahren aufwärts kam in andere Umstände (…) Das Stück fängt so lustig an, wirklich mit einem Durchzieher in das bayerisch-nationale Großmaul hinein. Wir sehen gleich am Anfang, wie zelotisch-lüstern und miserabel-heuchlerisch dieses bayerische Krähwinkel ist (…)
Man sehe „die Pioniere in all ihrer muskulösen Blödheit einmarschieren.“ Die Rede ist von „Ingolstädter Idiötchen“ … von „bayerischen Prachtkerlen … in Maske, Gang und Schnauze“

aus: Gerd Treffer, Geschichte der Stadt Ingolstadt 1918-1972, Ingolstadt in der Weimarer Zeit 1918-1933, Teilband 3, S. 1437 ff.



Marieluise Fleißer antwortet brieflich am 17.04.1929: „Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister von Ingolstadt! Liebe Mitbürger! Sie haben gegen mein Stück „Pioniere in Ingolstadt“ protestiert und es ein gemeines Machwerk, ein Schmähstück, ein Schandstück genannt. Sie haben die Aufführung ja nicht einmal gesehen, auch das Stück nicht gelesen, da es niemand zugänglich war… Und dann standen Ihrer den Zeitungen entnommenen Ansicht ja andere große Zeitungen entgegen. Warum haben Sie sich denn nicht das ganze Material angesehen…?“

aus: Gesammelte Werke: Band 4, Brief nach Ingolstadt, S. 410 f.


Das Fazit der Privatklage Marieluise Fleißers 1929 im Auftrag des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller waren 30 Mark Geldstrafe für den Ingolstädter Oberbürgermeister.

Erich Kästner verfasste zur Situation in Ingolstadt ein Gedicht mit dem Titel

„Der Schildbürgermeister“

Der Bürgermeister von Ingolstadt
hat sich beschwert,
weil Fräulein Fleißer beschrieben hat,
wie man des Nachts in Ingolstadt
miteinander verkehrt.

Tja, bayerische Pioniere
sind Kerls und nennen ihre
Wünsche mit vollem Namen.
Und Dienstmädchen sind keine Damen.
Denn wer auf dem Klaviere
nichts weiter als Staubwischen kann,
der ist kein Freund vom Erörtern
und zieht auch den nackigsten Wörtern
keine Badehosen an.
Eine Laube ist kein Boudoir.
Das ist doch eigentlich klar!
Jedenoch der Oberbürgermeister
von Ingolstadt – Dr. Gruber heißt er –
fand, die Fleißer beschimpfe die Stadt,
und hat
einen Protest voller Schrot und Saft
(im Namen der ganzen Einwohnerschaft
und der ehemaligen Pioniergarnison)
und in gräßlich gekränktem Ton
an die Berliner Behörden gehetzt.
Er protestiert wie ein Bullenbeißer.
Das arme Frolln Fleißer!
Was macht sie jetzt?

Wenn sie nicht schleunigst was andres dichtet:
Vom Pionier, der zehn Jahre wirbt
und kurz vor Anna Erlaubnis stirbt –
wird sie in Ingolstadt hingerichtet.

In Ringel-ringel-Ingolstadt,
wo man von nichts ne Ahnung hat,
da erröten vor Dir die Radieschen.
Pfui, pfui, Marieluischen!

aus: Hiltrud Häntzschel, Marieluise Fleißer-Eine Biographie, S. 188 f.



Jahrzehnte später, 1961, erhielt Marieluise Fleißer im Neuen Rathaus den Ingolstädter Kunstförderpreis und trug sich in das Goldene Buch der Stadt ein.

• Hinweis auf den Standort des Alten Stadttheaters
Vor der Zerstörung bei einem schweren Luftangriff 1945 stand gegenüber dem Rathaus auf der gegenüberliegenden Seite der Straße am Ende des Platzes das Alte Stadttheater.

Marieluise Fleißer begeisterte sich früh fürs Theater.
„Ins Theater drang ich ein als ein frecher Wicht. Ich gehörte da nicht hin, ich zählte ja nicht.“

aus: Gesammelte Werke Band 3: Die im Dunkeln, S. 270



„Fünf Jahre war ich alt und es war Sonntag und Nachmittag dazu, zum ersten Mal erlebte ich was ein Theater war. Es kam mir ins Auge, zwar von außen, meine Großmutter hielt mich fest an der Hand. Sie zeigte es mir und rief es mit seinem Namen an. Das rätselhafte Wort ging mir seltsam ein, und seit es in meinem Kopf fiel, hat es mich nie ganz verlassen und machte Tumult und nahm mir die Ruhe weg.“

aus: Gesammelte Werke Band 3: Der Venusberg S. 251


„Zum Stadttheater hatten sie es nicht weit, sie gingen um den Kobold herum, der ein Bräu war, …“ „Salzstadel und Theater waren dicke Nachbarn, sie konnten sich in die Fenster sehen, der Platz hieß nicht wie heut. Er schrieb sich französisch nach dem Gouvernementgebäude, das ihn flankierte. Damals standen noch verschattete Bäume darauf, damals war er intimer, das freistehende Theater schnitt ihn schon von der Schuttergasse ab.“

aus: Gesammelte Werke Band 3: Der Venusberg, S. 252



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